Thrommels Tod

Einleitung

M it der Vernichtung Joramys im Patchwall haben wir eine gewaltige Bedrohung von Furyondy abgewendet. Seit der sagenhaften Niederringung Joramys durch den Gründer und ersten König Furyondys, Artisan, fürchteten seine Nachkommen, die ebenfalls stets den Thron innehatten, daß Joramy ihren Fluch wahrmachen könnte, die Blutslinie Artisans zu vernichten. Um vor einem solchen Angriff gewappnet zu sein, sorgten sich sowohl Furyondys Hausgötter St. Cuthbert und Thriterion als auch Generationen von Hofzauberern um einen größtmöglichen Schutz des Königshauses. Nur mit diesen Hilfestellungen konnte schließlich der kurze aber ungemein heftige Kampf gegen Joramy siegreich ausgefochten werden. Die magischen Verteidigungsvorräte der Hofzauberer waren dadurch zwar auf das Stärkste angegriffen, aber wer hätte nicht alle zur Verfügung stehenden Mittel eingesetzt, um dieser Bedrohung ein für alle Mal ein Ende zu setzen? Und schließlich gab es ja noch immer den Schutz durch das Göttergeschenk Fragararch und vor allem die Götter selbst, die gegen den nun noch verbliebenen Erzfeind Iuz dem Reich zur Seite stehen würden. Das glaubten wir jedenfalls alle...

S o sah die Bevölkerung Furyondys der Thronübergabe von Belvor IV an seinen Sohn Thrommel mit großer Freude entgegen. Der alte König hatte fürwahr Übermenschliches für das Land geleistet und dabei trotz des schmerzlichen Verlusts seiner Frau und seines Sohnes Belvor "V" stets das Wohl Furyondys über das eigene gestellt. Wenn es je einen Herrscher gab, dem man einen geruhsamen Lebensabend herzlich gegönnt hatte, dann war es Belvor IV. Sein Sohn allerdings sah der Krone mit gemischten Gefühlen entgegen. Teils durch tragische Umstände teils durch eigene Schwäche hatten sich in seinem jungen Leben viele Ereignisse zugetragen, die ihm das Regieren als wenig attraktiv, ja sogar als eine unerträgliche, alle persönliche Freiheit erstickende Zwangsjacke erscheinen ließen. Während sein Vater offenbar instinktiv die richtigen Entscheidungen fällte und innere Krisen des Landes mit starker, aber dabei auf wunderbare Weise auch immer sanfter Hand zu bewältigen vermochte, so glaubte Thrommel schon bald zu erkennen, daß ihm diese natürliche Gewandtheit bei der Machtausübung vollkommen fehlte. Folgte er seinen Gefühlen und versuchte die Bildung zu verbessern, so stieß er auf nur wenig verhaltene Ablehnung bei den Fürsten. Mußte er hart durchgreifen, so sträubte sich alles in ihm. All dies war auch den Fürsten nicht verborgen geblieben und so kam es, daß sich viele von ihnen ernsthafte Gedanken darüber machten, wie es wohl um die zukünftige Sicherheit Furyondys bestellt sein würde, wenn Thrommel erst das Szepter innehätte. Die meisten machten sich lediglich Sorgen und hofften, daß Thrommel - einmal in Amt und Würden - sich durch die täglichen Regierungsgeschäfte von seinen utopischen Träumereien abwenden und ein ebenso guter Herrscher wie sein Vater werden würde, der ja schließlich auch als sanfter Jüngling den Thron besteigen mußte. Einige jedoch waren nicht gewillt, auf einen solchen Gesinnungswechsel zu warten. War Belvor ihnen in manchen Situationen schon zu nachgiebig gegenüber äußeren Feinden gewesen, so erwarteten sie von der Regentschaft Thrommels, der sich bekannterweise am liebsten träumend in den Wald zurückzog, schlicht und einfach den Untergang, mindestens aber einen substantiellen Zerfall Furyondys. Der alte König war alleine seiner Jahre wegen eine unangreifbare Autoritäts- und Vaterfigur und niemals wäre ihnen ein ernsthafter Widerspruch in den Sinn gekommen. Aber mit Thrommel war das anders: War es in der Geschichte Furyondys nicht immer genau dann zu Gebietsverlusten gekommen, wenn ein Thrommel auf dem Thron saß? Thrommel I entließ Veluna und die Shield Lands in die Eigenständigkeit; Thrommel II verlor Dyvers. Welche Reichsteile würden wohl unter dem zukünftigen Thrommel III verlustig gehen? Das wollten sie nicht abwarten, da waren sie sich einig!

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22. Sunsebb 583

V on all diesen Spannungen ist in Chendl nichts zu spüren, als wir uns wiedertreffen. Es herrscht eine ausgelassene Stimmung wie selten zuvor und die winterlichen Straßen der Stadt gleichen mehr den Gängen zwischen den Buden eines Jahrmarktes als den Gassen der erwürdigen Veste, die einst über hundert Jahre der aerdischen Belagerung standgehalten hatte. Es ist, als wäre dem ganzen Land eine gewaltige Last von den Schultern genommen worden.

A uch unsere Laune wird nur von der Abwesenheit Faithurs und Ragoons getrübt. Während Faithur nach seiner Erlösung von tausendjährigen Qualen dem Abenteurerdasein verständlicherweise nicht mehr zugeneigt ist und sich geschworen hat, sich fortan ausschließlich seiner Familie zu widmen, so ist für uns Ragoons Fernbleiben weniger nachvollziehbar. Zwar ist er als Bewohner Hommlets rein rechtlich gesehen ein Bürger der freien Stadt Verbobonc und somit nicht unmittelbar vom Regentenwechsel in Chendl betroffen, doch aufgrund seiner engen persönlichen Bindung an das Königshaus hatten wir alle mit seinem Kommen gerechnet. Stattdessen treffen wir überraschenderweise auf unseren alten Kampfgefährten Lombard, mit dem wir vor einem guten halben Jahr das Thornata-Abenteuer bestanden hatten.

Corwin erzählt uns zwar nicht, von wo her er eintrifft, aber wir vermuten, daß er in Sachen seines etwas nebulösen Ordens unterwegs war. Langsam kommen mir Zweifel, ob dieser Orden überhaupt schon existiert, da ich bisher noch rein gar nichts von ihm gesehen habe. Ich werde mich nach Ende der Feierlichkeiten wohl einmal zum angeblich Aufenthaltsort der frommen Männer teleportieren müssen. Ivanhoe kommt wie gewohnt per Pferd direkt aus seiner Burg in Bridgeton aus der Nordprovinz. An der Grenze zur Pufferzone zum Lande Iuz ist es vollkommen ruhig. Wahrscheinlich ist Iuz noch davon geschockt, wie schnell wir Joramy erledigt haben und ist nun in dumpfes Brüten verfallen. Soll er mal sehen, wie er damit fertig wird. Wir bedauern ihn nicht. Elias schließlich ist aus seinem kleinen Königreich in Begleitung von Cella angereist. Natürlich gibt es wieder reichlich Probleme mit den Nachbarstaaten, aber wenn jemand diese Schwierigkeiten bewältigen kann, dann doch wohl er, und so erscheint er uns recht ausgelassen. Ähnlich sehe auch meine persönliche Lage. Obwohl mir dieses Jahr durch eine noch nie dagewesene Häufung von unerfreulichen Verwicklungen (Thornata im Winter, das gräßliche Ull im Frühjahr und der Kinderpilgerzug im Herbst) ewig im Gedächtnis haften bleiben wird, so hat sich auch reichlich Gutes ergeben: Die Stadt Thornata sowie die Göttin Berei konnten vor dem Untergang gerettet werden, das Ull-Desaster ist durch Mutter Oerths eingreifen in Form des Pilgerzugs vollkommen kompensiert und meine Frau und Tochter, die ich zu Beginn des Jahres noch nicht einmal hatte(!), sind nun endlich ganz normale Menschen geworden. Dagegen wiegt es nicht so schwer, daß ich zu so gut wie keiner regulären Arbeit als Hofzauberer gekommen bin: Die zweiten Hofzauberer, Medard und Jodok, haben größtenteils nur nach meinen groben Richtlinien und im Detail nach eigenem Gutdünken gearbeitet. Die Anpassung des Unterrichtsinhalts für die jungen Hofzauberer an die neuen Erkenntnisse aus meinen diesjährigen Abenteuern ist ebenfalls vollständig liegengeblieben. Aber ich brauchte diesen Rückzug ins Familiäre, sonst hätte ich nach dem Ull-Fiasko wohl nie mehr zu meiner alten Leistungsfähigkeit gefunden - und damit wäre Furyondy auch nicht gedient gewesen!

23. Sunsebb 583

A m Morgen treffen wir uns alle beim Frühstück in der bereits festlich geschmückten großen Halle der Burg. Bereits 5 Tage vor dem großen Ereignis befinden sich ein Großteil der Landesfürsten sowie Gäste aus Veluna mitsamt ihren Familien in der Stadt, um dieses Fest von der ersten bis zur letzten Minute zu genießen, das jeder nur einmal in seinem Leben mitfeiern zu hoffen darf. Furyondische Könige wurden bisher für gewöhnlich steinalt und ein weiterer Thronwechsel in den nächsten 50 Jahren ist daher äußerst unwahrscheinlich.

D er höchste Gast ist zweifelsfrei der velunesische König Hazen, der als Thrommels Schwiegervater und enger Freund Belvor IV der Thronübergabe selbstverständlich besonderes Interesse entgegenbringt. Doch trotz dieser familiären Nähe liegt seit einiger Zeit ein Schatten auf dem früher so ungetrübten Verhältnis zwischen Furyondy und Veluna. Zwar hat sich an den offiziellen Positionen der beiden bedeutenden Staaten zueinander nichts geändert, doch fällt es aufmerksamen Beobachtern auf, daß seit einiger Zeit von dem Plan, die beiden Königreiche anläßlich der Thronübergabe miteinander zu verschmelzen und dabei Veluna die geistige und Furyondy die weltliche Herrschaft ausüben zu lassen, nichts mehr zu hören ist. Aufgrund des Stillschweigens auf höchster Ebene schießen unter den Fürsten die Vermutungen über Velunas Gründe für diesen Rückzieher ins Kraut. Die meisten glauben, Veluna hätte die Aussicht auf einen schwachen König Thrommel - Schwiegersohn oder nicht - zu einer abwartenderen Haltung gebracht. Andere vermuten, daß die momentane Zurückhaltung Ausdruck einer generellen Verweigerung der velunesischen Bischöfe ist, sich einer weltlichen Regierung aus Furyondy zu beugen und wieder andere sind schließlich der Überzeugung, daß die ganzen Vereinigungsgerüchte ohnehin nur ein Hirngespinst gewesen seien.

D er Saal der Burg ist annähernd halb gefüllt als wir an dem Tisch Platz nehmen, an dem bereits eine Großzahl von Mitgliedern des Rats der Knights of the Hart dabei ist, die politische Lage in Stammtischmanier zu erörtern. Sogleich wird Ivanhoe von Großherzog Wigbert und Herzog Helmar auf Thrommels Auftreten bei der Pilgerzugsache angesprochen. Helmar, der ein Lehen im Nordosten Furyondys rund um Grabford besitzt und als Anführer der Thrommelgegner im Rat gilt, hofft offensichtlich auf kompromitierendes Material von dem von ihm als Gesinnungsgenossen eingestuften Ivanhoe. Wigbert, ein kecker Gnom, fragt dementgegen wohl aus echter Neugier. Es spricht für sein außerordentliches politisches Geschick, daß er es in der cuthbertianisch geprägten klerikalen Hierarchie Velunas geschafft hat, sich als Anhänger Zilchus' auf einem solch prominenten Posten zu behaupten, und so ist auch bisher im Rat nicht zu erkennen gewesen, welcher Partei er zuzurechnen ist. Ivanhoe antwortet den beiden und berichtet aus Loyalität Thrommel gegenüber nur das Beste wobei er sogar die Nikas-Sturz-Geschichte verschweigt, die er Thrommel noch immer nicht verziehen hat. Merklich ungläubig nimmt Helmar die Schilderungen entgegen.

D ie Gepräche sind gerade dabei, sich zu vertiefen und Helmar will noch einmal nachbohren, als wir auf einmal von einem sich unauffällig nähernden Diener zur Seite genommen werden. Thrommel möchte uns sofort sehen. Um Aufsehen zu vermeiden, sollen wir uns wie zufällig in eingem Abstand erheben und uns dann schnellstmöglich zu ihm begeben. Obwohl Ivanhoe Schwierigkeiten hat, sich von Helmar und Wigbert zu lösen, treffen wir binnen 10 Minuten in Thrommels Gemächern ein.

D er zukünftige König Furyondys begrüßt uns herzlich, doch seine große Nervosität kann er kaum verbergen. Kaum hat er uns allen die Hände geschüttelt, zeigt er uns die Quelle seiner Unruhe: Einen Rostfleck auf Fragararch! Ein gutes Schwert würde nie rosten. Ein magisches Schwert schon gar nicht. Und wenn es sich um das vom furyondischen Schutzgott Thriterion persönlich geschmiedete Schwert Fragarach, dann ist das nicht nur ein Omen, das erst noch einer pessimistischen Interpretation bedürfte, sondern eine eindeutige Katastrophe. Denn wenn eines Gottes Schwert die magische Kraft verliert, wie mag es dann um den Schutz des Landes durch ebendenselben Gott bestellt sein?

Thrommel sagt zwar, daß das Schwert nur manchmal seinen Dienst versagt, doch der Rostfleck läßt keine Zweifel zu: Die Magie ist im Entschwinden begriffen und damit Furyondy einem möglichen Angriff Joramys gegenüber deutlich entblößt. "Moment 'mal" fährt es uns da durch den Sinn: Einem Angriff Joramys? Fragararch wurde von Thriterion geschmiedet, um den Menschen eine Waffe im Kampf gegen das wüten Joramys zu geben. Nun, da wir sie vernichtet haben, hat sich diese Aufgabe erledigt und das Schwert ist nur noch ein ganz gewöhnliches Schwert. Dies teilen wir Thrommel mit.

D och Thrommel ist durch diese Auslegung nicht beruhigt. Im Gegenteil. Angestochen durch dieses schlechte Zeichen sprudelt es nun ungebremst aus dem übervollen Faß seiner Sorgen und ergießt sich mit zunehmendem Schmerz in unsere Ohren, die schließlich kaum mehr ertragen können, was sie aufnehmen müssen. Schließlich ergibt er sich so sehr seinen Ängsten vor dem auf ihn zukommenden Amt, daß er es ausschlagen will. König? Er? Der Rat werde ihm das Leben zur Hölle machen: Sein Lieblingsprojekt Schulverbesserung werde er niemals gegen die Opposition durchsetzen können, seine Unerfahrenheit und Führungsschwäche werde auch sein Vater dann nicht mehr kaschieren können und wenn es jemals herauskäme, daß er mit seiner Frau Jolene ein uneheliches Kind habe, dann sei es endgültig um ihn und den Ruf Furyondys geschehen. Warum mußte sein Bruder und designierter Thronfolger Belvor auch bei der ersten Tempelschlacht den Tod finden und dadurch auch ihn, seine Familie und nun letztlich auch das Land ins Verderben reißen? Warum nur?

O bwohl wir größtenteils peinlich von dieser Darbietung berührt sind und uns nun tatsächlich auch zu fragen beginnen, ob dieser Mann dazu geeignet ist, Furyondy zusammenzuhalten, geschweige denn zu verteidigen, versuchen wir, ihn zu beruhigen und Wege aus dem vermeintlichen Elend aufzuzeigen. Nur langsam beginnen unsere Worte seinen Verstand zu erreichen, aber schließlich zeigen unsere Bemühungen Wirkung und auf einmal schlägt seine Resignation zuerst in trutzige Auflehnung und dann in fruchtbare, klare Pläne zur Abwendung der Misere um: Warum solle er seinen Sohn Vole geheimhalten? Es waren schwierige Zeiten und die Aussicht auf die bevorstehende und möglicherweise tödliche Tempelschlacht brachten ihn und seine Verlobte einander näher als es streng moralisch gesehen zulässig gewesen wäre, aber würde man dafür nach einem Sturm der Entrüstung nicht Verständnis haben, zumal er Jolene sogleich nach der Rückkehr aus dem Tempel ehelichte? Und würde sein Ansehen im Rat nicht eher steigen, wenn er sich Widerständen aussetzte anstatt ihnen auszuweichen. Gut möglich, das die Fürsten seine Ansichten nicht teilen werden, aber schließlich wäre er der König und eine kraftvoll durchgesetzte Entscheidung in Furyondy würde zumindest davon Kunde geben, daß es sich bei ihm um keinen Feigling handelte und das wiederum wäre die halbe Miete, um den Rat der Knights of the Hart von seinen Führungsqualitäten zu überzeugen.

O hne weiteres Zureden durch uns entwickelt Thrommel nun Pläne: Bereits morgen wolle er Vole dem Volk vorstellen und die Fürsten, die dem in Festlaune befindlichen Volk in seinem Jubel über den neusten Sproß und Prinzen aus der Linie Artisans sicher nicht die Freude verderben könnten, den Wind aus den Segeln nehmen, bevor sich dieser überhaupt regt!

A ls er sich wieder beruhigt, bedankt er sich herzlich bei uns, wechselt hie und da noch ein paar Worte und entläßt uns dann schnell mit den Worten "Damit niemand sich Gedanken macht, wo ihr so lange gewesen seid" in den Korridor. Erfreut und erstaunt über den von uns herbeigeführten Stimmungsumschwung begeben wir uns wieder in die große Halle. Nachdem wir uns den dortigen Neugierigen erfolgreich erwehren, geht jeder von uns seiner Wege. Ivanhoe will sich mit seinen Fürstenkollegen unterhalten. Die anderen wollen sich in der Stadt umsehen. Ich jedoch begebe mich in mein Labor, um mich noch etwas der Fragararch-Sache zu widmen. Mag Thrommel auch aus seiner Lähmung erlöst sein, so muß mich als Hofzauberer dieser einmalige Vorgang doch noch weiter beschäftigen: Haben die Götter dem Schwert die Macht entzogen? Ist es verflucht, temporär oder permanent deaktiviert? Nur einer kann mir diese Fragen schnell und präzise beantworten: Thriterion, der Schmied selbst.

M it dem Vorsatz, sogleich ein Sending an Thriterion zu schicken, betrete ich mein Labor. Doch kaum habe ich meinen Mantel abgelegt, da klopft es und als ich bitten lasse, tritt Medard, einer meiner beiden zweiten Hofzauberer, ein. Er ist gekommen, um mich zu den Ereignissen während des Kinderpilgerzuges zu befragen und mir außerdem eine interessante magische Fachfrage zu unterbreiten, zu der er gerne meine Meinung gehört hätte. Zwar unterhalte ich mich für gewöhnlich gerne mit Medard oder Jodok, doch heute vertröste ich ihn bezüglich der Pilgerzuggeschichte aufgrund der übergroßen Faktenfülle und meiner anderen dringenden Angelegenheiten auf morgen und bitte ihn, doch gleich zur Fachfrage überzugehen - dafür muß immer Zeit sein. Die Frage ist interessant: Wenn jemand einen Wish ausspräche, dann wäre dieser ja durch einen entgegengesetzten Wish wieder aufhebbar. Dem stimme ich zu. Wenn nun aber der ursprüngliche Sprecher einen weiteren Wish darauf verwendete, den ersten unaufhebbar zu machen, wie wäre die Lage dann? Nicht uninterssant, muß ich sagen. Nach einigem Überlegen komme ich zu dem gleichen Schluß wie meine Intuition schon nach einem Sekundenbruchteil: Die beiden Wishes müßten und könnten separat aufgehoben werden, denn nicht einmal mit einem Wish könne man Tatsachen schaffen, die außerhalb des Zugriffs eines weiteren Wish lägen. Denn dies würde göttergleiche Macht im Tausch gegen vergleichsweise lächerliche zwei Lebensjahre bedeuten und dem hätten die Götter sicher schon längst einen Riegel vorgeschoben. Das hält Medard für interessant und will sich sogleich in die Bibliothek begeben, um dort nach weiteren Hinweisen Ausschau zu halten. Er bedankt sich außerordentlich und sagt beim Gehen noch, daß er sich schon auf den morgigen Pilgerzugbericht freut. Dann schließt sich die Tür. Gut dieser Medard. Überrascht mich immer wieder.

N un also zum Sending an Thriterion. Diese Art der Kontaktaufnahme mit Göttern ist stets heikel. Da der Empfang von Sendings selbst von den Weltbeherrschern nicht abgewehrt werden kann, macht man sich potentiell extrem unbeliebt, da man ja nie weiß, worüber der jeweilige Gott gerade nachsinnt oder ob er aus anderen Gründen gerade nicht gestört werden möchte. Da man ja aber auf eine aussagekräftige Antwort wert legt (sonst könnte man sich den Ärger ja ersparen), habe ich es mir angewöhnt, mindestens die Hälfte der Botschaft auf Höflichkeitsfloskeln zu verwenden und die Frage möglichst geschickt komprimiert im zweiten Teil zu plazieren. Nach einiger Überlegung heißt es dann: "Bitte untertänigst die Beobachtung mitteilen zu dürfen, daß sich - wahrscheinlich in Übereinstimmung mit Euren und Beorys Plänen - die Macht der von Euch geschaffenen Schwerter proportional zu der Joramys entwickelt. Bitte um Beachtung, falls dieser Effekt nicht beabsichtigt. Der Hüter Eures magischen Erbes, Dorminor". Die Antwort kommt prompt: "Meine Zeit ist vielleicht vorbei. Eure doch wohl noch nicht. Die 9 anderen bleiben, was sie sind."

A ha, mal sehen. Also, Thriterion kann gegen den Machtverlust Fragararchs, des Schwertes, das die neutrale Gesinnungsbalance der anderen neun Schwerter in Richtung Chaotic Good ausgelenkt hat, nichts tun. Damit ist das ursprüngliche Patt zwischen den Gesinnungslagern wieder ausgeglichen. Was es mit dem Gerede über das vorbei sein auf sich hat, werden wir wohl noch herausfinden müssen. Geht es nur um seinen Schutz für Furyondy oder um die Existenz seiner ganzen Person? Eines steht jedenfalls fest: Der göttliche Schutz Furyondys ist nicht mehr und die Götter wissen es. Auch Iuz?

I m Laufe des Nachmittags treffe ich mich noch einmal mit Ivanhoe. Er hat einen merkwürdigen Brief von Graf Lohenstein erhalten, den er mir sogleich zeigt. Lohenstein ist mittlerweile, obwohl wir ihn als Grafen kennengelernt haben, nur noch Baron, seitdem er sich vor einem velunesischen Gericht für seine Kompetenzüberschreitungen bei der Kinderpilgerzugsache zu verantworten hatte. Er hatte damals die großteils adeligen Kinder auf seinem Lande zum Stoppen gebracht, um dann im Schutze der Nacht die von ihm gehaltenen, "Landhai" genannten, Monster auf die Anführer loszulassen, um dem Spuk ein Ende zu bereiten und dafür als Held gefeiert zu werden. Daß er dabei jedoch den Tod einiger Kinder billigend in Kauf nahm - "Landhaie" attackieren alles, was sich bewegt, nicht nur Anführer - hat dem Ansehen Velunas nicht unerheblichen Schaden zugefügt. Zwar konnte Lohenstein sein Lehen aufgrund dieser Tat nicht vollständig entzogen werden, da es sich nicht um einen eindeutigen Treuebruch gegenüber Hazen handelte, aber sein Herrschaftsbereich wurde auf das einer Baronie reduziert und die Grafenwürde einem ihm vormals unterstellten Baron zugesprochen. Lohenstein soll darüber auf des Äußerste erzürnt gewesen sein und pocht noch heute darauf, damals richtig gehandelt zu haben. Das spricht auch deutlich aus dem Brief, den Ivanhoe mir nun vorlegt:

[Brieftext]

D as Verwunderliche daran ist, daß Ivanhoe den Brief, auf den Lohenstein sich bezieht, nie geschrieben hat! Nun stellt sich uns die Frage, ob entweder jemand in Ivanhoes Namen ein solches Schriftstück verfaßt hat oder ob Lohenstein diesen ersten Brief frei erfunden hat. In beiden Fällen ist aber nun völlig unklar, was der jeweilige Autor damit bezweckt. Da der Brief nicht öffentlich ist, steht der Versuch, Ivanhoe zu komprimitieren, außer Frage. Und obgleich es bekannt ist, daß Ivanhoe nicht gerade zu den Thrommelverfechtern zählt, so wäre jedem, der ihn näher kennt doch klar, daß er sich nicht offen gegen ihn stellen würde. Aber vielleicht ist genau das ja auch die Lösung: Jemand, der Ivanhoe nicht so genau kennt, wie er es gerne möchte, versucht herauszubekommen, wie er auf diesen Brief reagiert, um daraus dann Schlüsse auf sein zukünftiges Verhalten ziehen zu können. Das bleibt zunächst die plausibelste Erklärung, die uns beiden einfällt.

U m möglichst schnell Aufschluß zu bekommen, ziehen wir Elias hinzu, der sich auf unseren Bericht hin per Pass Plant zu Lohensteins Burg begeben will, um dort einmal nach dem Rechten zu sehen und Hinweise auf den Urheber der Nachricht zu bekommen. Ich selbst möchte Chendl vorerst nicht verlassen, sofern diese Reise nicht mit hoher Wahrscheinlichkeit zur Aufklärung der sich anbahnenden neuen Machtverhältnisse beitragen könnte. Elias verläßt uns wenige Minuten später in Richtung des nahen Waldes und wird von uns an diesem Tag nicht mehr gesehen.

24. Sunsebb 583

K urz nachdem wir am Morgen das Frühstück eingenommen haben, kehrt Elias zurück. Der versammelten Gruppe teilt er mit, was er gesehen hat: Unweit von Lohensteins Burg liegt noch immer der Kadaver der von uns erlegten Tarasque und verpestet in weitem Umkreis alles, was lebt. Es scheint drei Fäulniszonen zu geben, von der die innere vollkommen kahl und schwarz geworden ist, die mittlere nur noch von verkümmertem Gras bewachsen ist und die äußerste aufgrund des Gestanks von allen Lebewesen gemieden wird. Das nahe Dorf ist menschenleer. Lohenstein selbst befindet sich auf seiner Burg und scheint dem Wahnsinn nahe zu sein.

K ann dieser Mann den Brief an Ivanhoe verfaßt haben? Unwahrscheinlich aber nicht ausgeschlossen. Während ich nicht besonders erpicht darauf bin, zwei Teleports zu verbraten, um diese Sache aufzuklären, so überwiegt in der Gruppe eine andere Meinung, der ich mich schließlich beuge. Zudem hat sich ein velunesischer Diplomat namens Lucadan unserer Gesprächsrunde hinzugesellt, dem Lohensteins Verhalten unbedingt untersuchungsbedürftig zu sein scheint. Schließlich willige ich ein und teleportiere uns Without Error in das verlassene Dorf bei Lohensteins Burg. Aber nur, nachdem ich nocheinmal unterstrichen habe, daß ich mich zurückbegeben werde, sobald zweifelsfrei feststeht, daß die Sache nichts mit momentan wichtigeren Dingen, nämlich den Ereignissen um Fragararchs Fehlfunktion und dem sich daraus ergebenen Schutzdefizit für die Königsfamilie, zu tun hat.

D ie Gegend um Lohensteins Burg liegt in schneebedeckter Ruhe. Totaler Ruhe: Kein Laut eines Lebewesens ist zu hören. Nur das Rauschen und Knacken von Ästen im Wind unterbricht ab und zu die gespenstische Stille. In der Ferne sehen wir den gewaltigen Körper der Tarasque wie einen fleischgewordenen Alptraum im fahlen Licht des Wintermorgens liegen. Uns ist beklommen zumute: Erstmals werden wir in so deutlicher Form mit den Folgen einer unserer Taten konfrontiert. Selbstverständlich hätte eine lebende Tarasque noch weitaus mehr Schaden angerichtet, aber für dieses Dorf ist der Unterschied kaum spürbar. Es fällt uns nicht schwer, nachzuvollziehen, wie Lohenstein in seinen momentanen Geisteszustand verfallen konnte: Seine von ihm als heldenhafte Rettung gedachte Tat kehrt sich gegen ihn, er wird des Großteils seines Lehens enthoben und der verbliebene Rest ist großflächig vergiftet. Dadurch wird der "Landhai"-Einsatz zwar nicht vergessen gemacht, aber der geistige Verfall verständlicher.

A ls wir Lohensteins Burg über die heruntergelassene Zugbrücke betreten, treffen wir auf einen alten, gebeugten Mann, der sich als Lohensteins Diener zu erkennen gibt und der als einziger nicht dem Gestank entflohen ist. Er erkennt uns und begrüßt uns freundlich. Um seinen Herren stehe es schlecht, sagt er uns und: "Er redet viel von Ivanhoe". Aha! Um die Beschwerden des armen Mannes etwas zu lindern, verwendet Ivanhoe dreimal Cure Disease auf ihn, wodurch seine altersbedingten Beschwerden zwar nicht verschwinden, aber wenigstens das Ungeziefer vertrieben wird, die Haarflechte verschwindet und die Erkältung sich in nichts auflöst. Dankbar fällt er zu Boden und sagt: "Ivanhoe ist da. Nun wird alles gut!" um uns gleich darauf zu seinem Herren zu geleiten.

A ls wir den Rittersaal betreten, finden wir Lohenstein im Zustande äußerster Verwahrlosung auf seinem Thron vor. Seine ehemals prächtige Kleidung ist unter einer Kruste von Schmutz kaum auszumachen und würde zweifellos von selber stehen, befände Lohenstein sich nicht in ihr. Seine Haltung ist erbärmlich. Am hervorstechendsten ist jedoch sein kahlrasierter Schädel, den er beständig mit ausgesuchter Langsamkeit mit einem scharfen Dolch überstreicht, um auch das kleinste Haar zu entfernen, sobald es seinem Haupt auch nur eine Winzigkeit entsprossen ist. Zwischendurch leckt er die Klinge mit seiner Zunge ab und beginnt die ekelige Prozedur von neuem.

F ür uns hat er nur zynische Verachtung übrig. Voll Verbitterung sind seine Vorwürfe, wir, "die Herren", hätten erst einmal mit ihm kooperiert, und ihn dann mit dem stinkenden Kadaver alleine gelassen, ohne uns nur noch ein einziges Mal umzuwenden. Davon, daß der "Landhai"-Einsatz der Kern der gegen ihn erhobenen Anklage war, will er nichts hören. Er hat sich seine eigenen Gedanken gemacht und weder Ivanhoes Appelle an sein Ehrgefühl noch Lucadans Drohungen für den Falle einer Behinderung unserer Arbeiten können ihn umstimmen. Wir könnten gerne tun und lassen, was wir wollten. Er habe ja offensichtlich auf seinem Land ohnehin nichts mehr zu sagen. Aber noch einmal werde er nicht so töricht sein, mit uns zusammenzuarbeiten. Mein Angebot, einen Versuch zur Zerstörung der Tarasque zu unternehmen, quittiert er mit einem höhnischen "Jetzt schon?" und lehnt sich unter einem leicht irren Glucksen wieder zurück, um mit der Bearbeitung seines Schädels fortzufahren.

N ichtsdestotrotz schicke ich mich an, die Tarasque mittels eines Disintegrate vom Gelände vor Lohensteins Burg zu entfernen. Da ich, in Erwartung vornehmlich protokollarischer Aufgaben am Chendl'schen Hofe, keinen Fly geprägt habe, bitte ich Ivanhoe, den Lombard daraufhin mit dem notwendigen Flugspruch versieht, mich Huckepack zu der außerhalb der Disintegrate-Reichweite liegenden Tarasque zu bringen. Der Zauber gelingt und gleich darauf entschwebt Ivanhoe mit mir durch ein zu diesem Zweck geöffnetes großes Fenster. Draußen schlägt uns nicht nur die Kälte sondern auch der faulige Geruch des gewaltigen Kadavers entgegen, der sich um so mehr verstärkt, je näher wir ihm kommen. Zweimal muß ich Ivanhoe bitten umzukehren, weil ich meine Übelkeit nicht mehr unterdrücken kann. Im dritten Anlauf kommen wir jedoch nahe genug heran, um den Zauber auszusprechen. Disintegrates sind mir bis heute kein einziges Mal gelungen - und ich bin merkwürdigerweise nicht unfroh darüber. So mächtig er auch als Waffe in meinen Händen ist, so sehr fürchte ich ihn auch im Arsenal meiner Gegner. Nach einem erfolgreichen Disintegrate ist alles aus und nur mit Hilfe von Wish-Sprüchen, die ja bekanntlich nicht auf Bäumen wachsen, kann das Opfer wieder ins Leben geholt werden. Ein entsetzlicher Spruch! All dies geht mir durch den Kopf, als ich auf die Tarasque anlege, den grünen, krachenden Strahl aus meinen Fingerspitzen entlasse und schließlich mit einem erneuten Aufkommen besagter Erleichterung feststelle, daß die Überreste des Monsters sich nicht in Luft aufgelöst haben. Lediglich etwas zugeschneites Gras ist auf ewig verschwunden. Auch der nachfolgende Versuch, die Tarasque in ein Kaninchen zu polymorphen, mißlingt mir.

N achdem ich somit mein gesamtes Vernichtungspotential ausgeschöpft habe - die noch vorhandenen Fireballs, Lightning Bolts und ähnliche Zauber kommen aufgrund der gewaltigen Masse des Aashaufens nicht in Betracht - gebe ich Ivanhoe das Zeichen zum Rückflug. Doch auf einmal sehen wir nach nur wenigen Metern etwas Unerwartetes: frische Fußspuren im Schnee! Wir können es kaum glauben: Die ganze Gegend ist entvölkert und nun finden wir gerade hier, direkt an der Quelle des Unbills, Spuren eines Menschen. Diese Person muß offensichtlich über einen extrem abgehärteten Geruchssinn verfügen, denn die Abdrücke lassen nicht etwa auf ein rasches Davoneilen sondern auf einen ganz normalen, gemessenen Schritt schließen. Dem müssen wir nachgehen. Wir wenden und verfolgen die Spuren zu ihrem Ausgangspunkt zurück: Dem Eingang zu Artisans Grab, nur wenige Meter von der Tarasque entfernt. Das Loch ist stockdunkel und wir verfügen über keinerlei Lichtquellen. Gerade als wir beginnen, uns darüber zu unterhalten, wie wir am besten vorgehen, um Erkenntnisse über den Höhleninsassen zu erlangen, meldet dieser sich selbst: "Wer da?" tönt es uns in der Gemeinsprache aus der Schwärze entgegen. Genau das wollten wir auch wissen, entgegnen wir, doch es bleibt still. Offensichtlich erwartete er - wenn überhaupt - jemand anderes als uns.

H öchst merkwürdig! Was sollen wir tun? Den Höhleninsassen sofort herauszerren und verhören? Unsere Entdeckung zuerst den anderen mitteilen? Nach kurzer Beratung außerhalb der Hörweite des Untergründigen entschließen wir uns dazu, zunächst zur Burg zurrückzufliegen, um die anderen zu informieren und Lohenstein zu befragen. Der Höhleneingang ist von den Zinnen aus klar sichtbar und eine Flucht der Person - oder sogar Personen? - im Loch auf unmagische Weise daher schwer möglich. Wenn sie es auf Geheimhaltung angelegt hätte bzw. die Mittel besäße, ihre Anwesenheit zu verbergen, wäre sie wohl kaum klar nachvollziehbar zu Fuß durch den Schnee gestapft. Rasch steigt Ivanhoe wieder auf und trägt mich, den Fußspuren in Richtung Burg folgend, wieder in Lohensteins Thronsaal.

I m Gegensatz zu den anderen ist Lohenstein nicht im Geringsten überrascht über unseren Bericht. Ja, ja, er wisse Bescheid, aber er wüßte nicht, was es uns anginge, welche Gäste er auf seinem Land beherberge. Oder habe man ihm sein verbliebenes Land nun auch noch aberkannt? Nein? Erstaunlich! Nun, dann befinde er sich wohl auch nicht in einem Erklärungsnotstand. Wir versuchen, Lohenstein davon zu überzeugen, daß es sicherlich in seinem Interesse wäre, uns behilflich zu sein. In unseren Augen sei er immer noch Graf und wenn er uns unterstützte, sei ihm unsere Fürsprache gewiß. Wir wissen selbst, wie schwach unsere Argumente sind und Lohenstein weiß es auch. Nein, danke, auf unsere Fürsprache verzichte er gerne. Wie merkwürdig, daß bei dem Prozeß gegen ihn niemand von uns zugegen gewesen sei und wir uns nun, kaum daß er angeblich einen Brief geschrieben hätte und ein paar kleine Spuren im Schnee seien, so bei ihm anheischig machten. Worum könnten wir wohl einen kleinen velunesichen Baron bitten, das wir uns nicht auch selbst holen könnten? Wir seien doch sonst auch nicht so zimperlich gewesen? Lucadan ist einem Wutausbruch nahe. Zwar kennen wir ihn erst seit ein paar Stunden, aber unschwer können wir in seinen Gesichtszügen lesen, daß er, der Bevollmächtigte der Krone Velunas, nicht länger gewillt ist, sich derartiges Gebaren von einem entehrten Baron wie Lohenstein bieten zu lassen. Wenn er es im Guten nicht verstünde, dann müßten jetzt wohl härtere Bandagen angelegt werden, um die Beantwortung unserer Fragen im Interesse der Staatssicherheit zu erreichen. Lucadan erhebt sich.

D a durchfährt mich ein ungeheurer, bohrender Schmerz. Ich krümme mich vornüber, als ob mir ein unsichtbarer Riese einen Tritt in die Magengrube beigebracht hätte. Alarm in Chendl. Der Allerschlimmste.

N ach Sekunden, die mir mir wie Minuten erscheinen, richte ich mich wieder auf: "Wir müssen sofort nach Chendl. Der König oder Thrommel sind in Lebensgefahr. Ich teleportiere mich sofort. Wer kommt mit?" Obwohl meine Sinne schlagartig aufs Äußerste gespannt sind und ich die Szene im Thronsaal plötzlich mit übernatürlicher Klarheit wahrnehme, so höre ich die aufgeregten, stürmisch hervorgebrachten Fragen meiner Kameraden nur wie durch einen dichten Schleier. Meine Gedanken sind längst in Chendl. Unmittelbar bevor ich mit dem Ausprechen des Teleportationszaubers beginne, höre ich mich noch einmal sagen: "Keine Zeit für Fragen. Wer kommt mit?" Elias zögert am längsten aber dann springt auch er noch hinzu. "Ach, die Herren wollen schon gehen?" ist das letzte, was wir aus einer Ecke des Saals hören.

C hendl. Die Burg. Der Gang vor meinem Labor. Alles ist ruhig. Sonnenstrahlen fallen durch die hohen Fenster. Wo mögen Belvor und Thrommel sein? Ich folge meinem Gefühl. Da Corwin mit seinen Winged Boots am schnellsten ist, bitte ich ihn, während ich meinen Wand of Paralization in Anschlag nehme, mich fliegend durch die Korridore zu tragen. Die anderen folgen im Laufschritt, so schnell sie können. Als wir an einer Tür unweit meines Labors vorbeirasen, treten aus dieser mein Vertreter Jodok und einige weitere Unterhofzauberer heraus. Der Anblick ihres Vorgesetzten, der auf Bischof Corwins Rücken durch die Gänge fliegt, reißt sie abrupt aus ihrem Gespräch. "Mir nach! Dies ist keine Übung!" rufe ich ihnen im Umdrehen zu. Sie folgen uns sofort.

G erade als ich mich zu wundern beginne, warum von dem Angriff noch nichts zu bemerken ist, sehen wir den Kopf eines blauen Drachen durch eine zum Osthof weisende Fensteröffnung und - wie zur Bestätigung, daß uns unsere Augen nicht trügen - hören wir nur einen Augenblick später entsetzliche Schreie. Drachen über Chendl? Das Blut schießt uns in den Kopf. Ohne einen klaren Gedanken fassen zu können, gelangen wir in größter Hast auf die den Osthof umgebenden Zinnen und erblicken etwas so unfaßbares, daß wir für einige Augenblicke nicht anders können, als in ungläubigem Schock in der Bewegung innezuhalten: Der Hof zu unseren Füßen ist übersät mit regungslosen, teilweise verschmorten Körpern. Die meisten von ihnen waren offensichtlich einfache Bürger, aber auch Wachen können wir ausmachen. Zwischen ihnen wandelt eine schwarzberobte Gestalt umher, die Flamestrikes auf diejenigen herniederfahren läßt, die sich noch rühren. An der Stirnseite des Hofs, dort, wo sich bis vor wenigen Sekunden noch ein großer Balkon befunden hat, sind nur noch gewaltige Schmauchspuren zu sehen. Am Boden darunter ist der zerschellte Balkon nicht auszumachen. Stattdessen wabert dort eine undurchdringlich schwarze Blase. Auf halber Höhe darüber, inmitten eines gewaltigen Rußflecks, prangt der ausgesparte Umriß einer menschlichen Gestalt. Am Himmel brausen fünf blaue Drachen und ein von einer ebenfalls schwarzberobten Gestalt berittener violetter Drache - Aros! - in engen Kreisen über die Burg hinweg, um zum nächsten Schlag auszuholen. Die auf den Zinnen befindlichen Wachen, die den ersten Angriff überlebt haben, schießen ziellos in die Luft. Eine Katastrophe, wie sie Furyondy seit den Tempelkriegen nicht erlebt hat.